Ich wohnte zu der Zeit in Oldenburg und war etwa elf Jahre alt. Eine Leseratte bin ich seit frühester Schulzeit gewesen. Mit elf Jahren war ich längst aus den Kinderbüchern herausgewachsen. Karl May, Robert Louis Stevenson, Jack London – das waren meine Autoren. Insbesondere die Seefahrt hatte es mir und auch meinen Freunden angetan. Wir bauten einige Requisiten, wie z.B. eine Seemannskiste nach, zeichnete mehrere Schatzkarten und waren immer völlig aus dem Häuschen, wenn ein Piratenfilm im Fernsehen lief.
Nun gab es aber einige Dinge, die nur den Erwachsenen vorbehalten waren. Dazu zählte natürlich der Rum. Jeder Pirat trank das Zeug eimerweise, so stand es in den Geschichten. Also plünderten wir Muttis Schachtel mit den Kuchengewürzen, um mithilfe des Rumaromas zumindest unserer Brause einen Hauch von Verruchtheit zu geben. Schwieriger war es mit dem Kautabak, dem sogenannten Priem. Echte Seeleute hatten immer einen Priem in der Tasche. Davon schnitten sie große Stücke mit ihrem Seemannsmesser ab und stopften sich die Backen voll, wusste doch jeder. Was nahmen wir? Natürlich Lakritze. Die Auswahl war in den 1970er Jahren eher bescheiden. Wir einigten uns auf kleine Lakritzdreiecke, die es in einer grünen Tüte, bis heute, zu kaufen gibt. Die schmeckten etwas herber. Wir glaubten echter Kautabak müsse so schmecken.
Ein paar Wochen später kam Jochen, ein Freund vorbei. Er war in den Ferien bei seinen Großeltern gewesen. Sein Opa säße jeden Abend auf der Veranda und kaute Tabak berichtete er. Ein Stück hätte er mitgebracht, nur der Opa dürfe das nie erfahren und natürlich die Eltern auch nicht. Wie ich heute weiß, handelte es sich bei dem Tabak um eine sogenannte Marschall-Schnecke. Sie sah etwa wie eine zu groß geratene Lakritzschnecke aus. Jochen schnitt für jeden ein Stück von der Schnecke ab. Wir nahmen es und kauten ein wenig darauf herum. Höllenscharf war das. Mir stiegen die Tränen in die Augen, doch Schwäche wollte ich nicht zeigen. Jochen ging es wohl ähnlich. Er wurde etwas weiß um die Nase irgendwann stürmte er aus meinem Zimmer. Ich riss das Fenster auf und entledigte mich den Resten. Gerade noch rechtzeitig. Mir wurde flau im Magen und ich musste mich aufs Bett setzen. Der Mund und die Zunge brannten wie Feuer. Wie es weiterging, könnt ihr euch denken. Beim Abendessen hatte ich nicht wirklich Appetit und ging früh schlafen.
Tags darauf beschlossen Jochen und ich, dass man es mit den alten Seefahrergeschichten doch nicht allzu genau nehmen solle. Die Leidenschaft für Lakritze ist geblieben. Besonders für die etwas herberen Sorten, aber ein Priem kommt mir nicht mehr ins Haus, bzw. in den Mund.
Geschrieben von Michael Stelter, März 2010